Re/Public

Jonas Lund Re/Public

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Wer bestimmt über die Nutzung des digitalen Raums? Grosse Konzerne, überwachende Staaten? Unsere Bewegung in diesen neuen Öffentlichkeiten folgt subtilen Kräftefeldern, die aber meist verborgen bleiben. Wege, ähnlich wie Karrengeleise, durchziehen die Weiten des Webs. Wir folgen ihnen aus purer Bequemlichkeit. Und wir merken: Die Strukturierung des digitalen Raums hat immer häufiger Auswirkungen auch auf den physischen Raum.
Im ersten Ausstellungsraum fragen drei Positionen nach unserem Bewegungsmustern in diesen neuen Räumen, sowie nach unse- rem Wissen über die UrheberInnen der Strukturen. Yvon Chabrow- ski und Nicolás Rupcichs Installation Faces (2018) verwandelt reale Menschen in Schemen und lässt uns so die algorithmisierte Überwachung als ästhetisches Spiel erleben. Auch die Arbeit Ghosts of your Souvenir (2015 – ongoing) von Émilie Brout und Maxime Marion haben auf den ersten Blick etwas sehr Verspieltes: Die beiden schmuggeln sich als blinde Passagiere auf Touristen- Schnappschüsse, indem sie an populären Sightseeing-Spots in der Menge posieren. Die Fotos finden sie später im Internet, wenn sie akribisch nach Aufnahmeort und -zeit suchen. Das Unheimliche steckt hier nicht in den Bildern, sondern in der öffentlichen Zu- gänglichkeit und Suchbarkeit der Metadaten. Auch Privates ist im 21. Jahrhundert letztlich Teil einer grossen Öffentlichkeit. Joana Molls Arbeit Algorithms Allowed (2017) schliesslich untersucht die seltsame fragmentierte Realität des Webs, wenn es um Grenzen und politische Verhältnisse zwischen Nationalstaaten geht. An- hand einer Webseite zeigt die Künstlerin auf, wie Google-Tracking- Systeme, die spezifisches Userverhalten aufzeichnen, auch in Ländern eingesetzt werden, die unter Amerikanischem Embargo stehen – unter stiller Duldung der US-Politik?

Das Internet sind wir! Es ist ein Raum wo wir uns ausdrücken und darstellen, wo Trends entstehen und vergehen, wo wir unsere Meinung frei äussern und alles sagen dürfen – oder etwa doch nicht? Im zweiten Ausstellungsraum geht es um unsere Rolle im Netz und um die Frage, wie frei beziehungsweise wie beeinfluss- bar wir als aktive Nutzerinnen – und Gestalter – des digitalen Raums sind. Jonas Lunds Fair Warning (2016) führt die Praxis
der Userumfrage mit einer 300 Fragen starken Slideshow, die im sieben Sekundentakt wechselt, ad absurdum. Ziel ist die Evalu- ation von Geschmack, die Thematik der Fragen reicht dabei vom extrem Banalen bis zum Politischen. Auf dem Bildschirm verfolgen wir das Klickverhalten der UserInnen der Webseite in Echtzeit wäh- rend unsere Partizipation im Ausstellungsraum auf gedanklicher Ebene geschieht. Der Nutzen dieser Umfrage bleibt dabei fraglich. Die von uns im Netz hinterlassenen Datenspuren werden laufend ausgewertet und zu Kategorien verrechnet – doch wie zuverlässig ist diese neue Big-Data-Wissenschaft? Würden wir uns anhand der Schubladen wiedererkennen, in die wir da gesteckt werden? Marc Lee interessiert sich auch für diese Identitäts-Zuschreibungen
– und dafür, wie sie genutzt werden können, um uns zu beein- flussen. In Political Campaigns – Battle of Opinion on Social Media (2016), zeigt er auf eingängige Weise, wie sich der digitale Raum verzerren lässt. Aktuellste Twitter-, Instagram- und Youtube- Meldungen, die in Verbindung zu politischen Spitzenkandidaten (in diesem Fall Merkel vs. Putin) stehen, werden in Echtzeit zu einer wilden TV-Show verquirlt. Skywriting (2014) von Olia Lialina und Dragan Espenschied basiert auf Daten tausender persönlicher Webseiten, die vom Gratis-Provider GeoCities gehostet gewesen waren, der 2007 den Betrieb einstellte. Der Blick ins frühe WWW zeigt uns die Vergänglichkeit digitaler Räume. Während man damals eine eigene Homepage baute, einen eigenen Ort im Cy- berspace, hat man heute Accounts auf Social Media-Plattformen. Lialina und Espenschieds Arbeit ist auch eine Ode an die wilde Kreativität der Amateurkultur, das oft verlachte «volkstümliche Web», das heute stärker vereinheitlicht und in kommerziell ver- wertbare Bahnen gelenkt ist.

Ein Stockwerk weiter oben zeigen zwei Werke, was passiert,
wenn die vorherrschenden Prinzipien der Digitalsphäre auf den tatsächlichen, politischen Raum ausgreifen. Wie organisiert
man Gesellschaft am besten, wenn man das Internet als Vorbild nimmt? The Seasteaders (2018) von Jacob Hurwitz-Goodman und Daniel Keller zeigt uns die anarcho-kapitalistische Variante, bei der das Silicon Valley-Prinzip der Disruption auf den Bereich des Staat- lichen ausgeweitet wird – Governance als ultimatives Geschäfts- feld. Das Video nimmt uns mit nach Französisch-Polynesien,
wo steueroptimierende Digital-Millionäre einen neuen Staat auf schwimmenden Inseln einrichten möchten, ein niemandem ver- pflichtetes Paradies. Eine andere Zukunftsvision steht im Zentrum von Christopher Kulendran Thomas‘ 60 Million Americans can’t be wrong (2017). Er wagt darin ein kühnes Gedankenexperiment: Was wenn es kein Privateigentum mehr gibt und wir in Zukunft unseren Besitz nach dem Prinzip der Sharing Economy organisieren? In der Vision des Künstlers wird das Konzept des Wohnens aufgeteilt auf nicht nur einen, sondern verschiedene Standpunkte in verschie- den Städten, die je nach Bedürfnis der Situation beliebig variieren. Mündet dieses Experiment in letzter Konsequenz in der Erkennt- nis, dass Staatsgrenzen redundant werden, sobald wir in der Cloud zuhause sind und alles je nach Bedarf gestreamt wird? Zuge- schnitten ist das Modell allerdings ohnehin vor allem auf die urba- ne Creative Class, einer elitären Minderheit also, die projektbasiert arbeitet und ihren Arbeitsplatz daher mobil gestalten kann.

Gewissermassen als Klammer der Ausstellung fungieren zwei Arbeiten zuunterst am Eingang und zuoberst im Turm, die im konkreten physisch-digitalen Raum funktionieren – und diesen auf subtile Weise durcheinanderbringen. Lasse Scherffig konfron- tiert uns in seiner Arbeit Where have you been (2016) auf dem Bildschirm beim Eingang mit Orten, an denen wir womöglich erst gerade waren: Die Installation greift auf Signale unserer Smart- phones zu, die ständig nach Wifis suchen, die wir einst benutzten. Wifi-Namen und Metadaten gehören auch zu den Daten, die z.B. das Google-Auto aufzeichnet, und dienen nebst GPS-Signalen der Lokalisierung auf Karten-Apps. Scherffig verschaltet die von uns besuchten Wifis mit passenden Google-Streetview-Bildern – und verschafft uns damit digital vermittelte Déjà-Vus. Ganz oben im Turm werden wir dagegen vermeintlich an fremde Orte entführt
– Gordan Savičić und Bengt Sjöléns Packetbrücke (2012–2015) gaukelt unseren Geräten vor, ganz woanders als im Herzen der Berner Innenstadt zu sein. Sie nutzen ebenfalls den Fakt, dass Wifi-Daten zur Lokalisierung dienen. Dazu reproduzieren sie die Wifi-Situation eines anderen Ortes, sodass unsere Smartphones meinen, sich woanders zu befinden. Probieren Sie dies mit einer Karten-App aus oder lassen Sie ihre Fotos entsprechend geotag- gen (falls Sie diese Funktion nicht zum Schutz ihrer Privatsphäre abgeschaltet haben). Lassen Sie den Blick und die Imagination schweifen! Und vertiefen Sie sich in die Dokumente, die wir hier oben als Ergänzung zu den künstlerischen Arbeiten gesammelt haben. Die Räume sind weit, die Zukunft ist offen.

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